
Als Angela Merkel, ehemalige Bundeskanzlerin Deutschlands am 5. Oktober 2025 in Budapest ein Interview mit dem ungarischen Online‑Medium Partizán führte, hatte sie kaum geahnt, dass ihre Worte sofort europaweit für Aufruhr sorgen würden. In dem Gespräch gab sie zu, dass die Weigerung von Polen und den baltischen Staaten – Estland, Lettland und Litauen – das 2021 von ihr vorgeschlagene Dialogformat mit Wladimir Putin abgelehnt hätten, trage zumindest einen Teil der Verantwortung für den späteren Ukraine‑Krieg. Die Aussage löste sofort heftige Gegenreaktionen aus, vor allem aus Warschau und den baltischen Hauptstädten, die Merkels Einschätzung als "unhaltbar" bezeichnen.
Hintergrund: Merkels Dialogvorschlag von 2021
Im Sommer 2021, noch während sie das Amt der Bundeskanzlerin innehatte, initiierte Merkel einen "Europäischen Sicherheitsdialog" – ein informelles Format, das Regierungen aus der gesamten EU zusammenbringen und einen gemeinsamen Kurs gegenüber Russland erarbeiten sollte. Ziel war es, nach dem Ende des Iran‑Atomabkommens und angesichts erhöhter militärischer Aktivitäten in Kaliningrad eine einheitliche Strategie zu finden. Laut internen Regierungsprotokollen sollte der Dialog vor allem die Wiederaufnahme von Gesprächen mit Moskau ermöglichen, ohne die Sanktionen gegen das Land zu lockern.
Die Idee stieß in Brüssel auf gemischte Reaktionen. Während Frankreich und Italien die Initiative grundsätzlich unterstützten, äußerten Vertreter aus Polen Bedenken: Sie warnten vor einem "Signal der Schwäche" gegenüber einer aggressiven russischen Führung. Ähnlich argumentierten die Regierungen von Estland, Lettland und Litauen, die aufgrund ihrer eigenen Geschichte unter sowjetischer Besatzung besonders sensibel gegenüber jedem Ansatz waren, der als Nachgiebigkeit gegenüber Moskau interpretiert werden könnte.
Das Interview und die umstrittenen Aussagen
Im Gespräch mit Partizán erklärte Merkel: "Im Jahr 2021 habe ich ein neues Dialogformat vorgeschlagen, um die Beziehungen zu Präsident Putin zu stabilisieren. Polen und die baltischen Staaten lehnten das ab, weil sie befürchteten, die EU könnte keinen einheitlichen Russland‑Kurs finden." Sie fuhr fort: "Dieses Scheitern hat das Vertrauen zwischen Moskau und dem Westen untergraben und damit die Voraussetzungen für die Invasion von 2022 verschlechtert."
Merkel hob zudem die Minsk‑Vereinbarungen von 2015 hervor: "Alles andere als perfekt, ja, aber sie gaben der Ukraine Zeit, sich zu reorganisieren. Die Ukraine ist ein anderes Land geworden und konnte sich so besser verteidigen." Diese Aussage, gepaart mit ihrer Schuldzuweisung, wirft ein neues Licht auf die lange Debatte um die europäische Russland‑Politik.
Reaktionen aus Polen und den baltischen Staaten
Polens Außenministerin Rafał Trzaskowski reagierte innerhalb von Stunden: "Wir sind empört über die Schuldzuweisungen einer ehemaligen deutschen Regierungschefin, die die realen Sicherheitsbedenken unserer Länder ignoriert. Polen hat seit 2014 konsequent auf eine harte Linie gegen die russische Aggression gesetzt."
In Tallinn erklärte der estnische Außenminister Kaj Van Roon, dass die Geschichte des Landes „eine klare Lehre darüber gibt, was passiert, wenn man Russland verhandelt, ohne klare Bedingungen zu setzen". In Riga und Vilnius wurden ähnliche Statements veröffentlicht, die Merkels Darstellung als "verzerrt" und "politisch motiviert" bezeichnen.
Der ungarische Premier Viktor Orbán, dessen Regierung seit 2010 enge Beziehungen zu Moskau pflegt, äußerte sich zwar nicht öffentlich zu den Vorwürfen, doch Analysten vermuten, dass er die Gelegenheit nutzt, um den bestehenden Dissens innerhalb der EU weiter zu verschärfen.
Analyse: Was bedeutet das für die EU‑Einheit?
Experten sehen in Merkels Interview ein Symptom einer tieferen Spaltung: Die Ost-West‑Schere innerhalb der Europäischen Union, die seit den 2010er‑Jahren aneinandergerüttelt wird. Dr. Anna Schmitt, Senior Fellow am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, erklärt: "Merkel versucht, ihr Erbe der ‚konzilianten‘ Russland‑Politik zu rehabilitieren. Damit schafft sie jedoch ein Narrative, das die realen Opfer – Polen, Estland, Lettland und Litauen – diskreditieren könnte."
Ein weiteres Problem: Die sowjetische Vergangenheit der baltischen Staaten hat in ihrer Außenpolitik eine "Zero‑Tolerance‑Strategie" gegenüber russischer Aggression erzeugt. Wenn diese Länder nun als "verantwortlich" für den Krieg dargestellt werden, könnte das die ohnehin fragile Solidarität schwächen und die Unterstützung für weitere Sanktionen untergraben.
Gleichzeitig weist Prof. Luca Bianchi vom Institut für Internationale Beziehungen in Rom darauf hin, dass "die historischen Fehler bei der EU‑Politik gegenüber Russland keineswegs neu sind. Merkel hebt lediglich einen bereits bekannten Aspekt hervor – die mangelnde Einheit.“
Ausblick: Weitere Entwicklungen und mögliche Konsequenzen
Im kommenden Monat plant die EU eine Sonderkonferenz in Brüssel, um die "Strategie für die Ukraine" zu überarbeiten. Beobachter erwarten, dass Polen und die baltischen Staaten starkes Druckmittel ausüben werden, um eine klare Position gegen weitere Annäherungen an Moskau zu fordern.
Falls die Diskussionen zu einem erneuten Dialog mit Russland führen – vielleicht in Form eines aktualisierten Sicherheitsdialogs – könnte Merkels frühere Initiative wieder in den Fokus rücken. Doch die Gefahr besteht, dass die aktuelle Kontroverse die Verhandlungsposition Polens und der Balten schwächt und damit Russland indirekt einen Vorteil verschafft.
Für die deutsche Politik heißt das vor allem eins: Das Erbe von Merkel muss sich neuernde Kritik stellen, ohne die westliche Koalition zu sprengen. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob die EU aus den Lehren von 2021 wirklich lernen kann – oder ob alte Gräben erneut die Oberhand gewinnen.
Häufig gestellte Fragen
Wie reagiert die polnische Regierung auf Merkels Schuldzuweisungen?
Polen hat die Äußerungen als "unhaltbar" und "politisch motiviert" bezeichnet. Außenministerin Rafał Trzaskowski betonte, dass Polen seit 2014 konsequent eine harte Linie gegenüber Russland unterstütze und die Schuldzuweisungen die realen Sicherheitsbedenken des Landes ignoriere.
Welche Rolle spielte der vorgeschlagene Dialog von 2021 wirklich?
Der Dialog sollte EU‑interne Uneinigkeit über die Russland‑Politik schließen und eine Plattform für direkte Gespräche mit Moskau schaffen. Obwohl er von einigen Mitgliedstaaten unterstützt wurde, lehnten Polen und die baltischen Staaten das Format aus Angst vor einer zu lockeren Haltung gegenüber Russland ab.
Warum wird das Minsk-Abkommen von Merkel verteidigt?
Merkel argumentiert, dass das Minsk‑Abkommen trotz seiner Mängel der Ukraine Zeit verschafft habe, sich zu reorganisieren und damit ihre Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Sie nennt das Abkommen einen "Beruhigungsfaktor", der mehrere Jahre lang für ein relativeres Stillschweigen an der Front sorgte.
Welche Auswirkungen könnte die Kontroverse auf die EU‑Einheit haben?
Die Debatte vertieft die bereits bestehende Ost‑West‑Spaltung innerhalb der EU. Wenn Polen und die baltischen Staaten sich weiter marginalisiert fühlen, könnten sie harten Gegenwind gegen jede Annäherung an Russland leisten, was die Koalition in Brüssel weiter belastet.
Was ist der nächste Schritt der EU nach dem Interview?
Im Oktober soll eine Sonderkonferenz in Brüssel stattfinden, um die "Strategie für die Ukraine" zu überarbeiten. Dort werden Polen und die baltischen Staaten voraussichtlich auf eine klare Position gegen weitere Annäherungen an Moskau drängen.